Kein T30 auf der St.Leonhardstrasse
Am 24. September hat das das Sicherheits- und Justizdepartements des Kantons St.Gallen einen Rekursentscheid gefällt, der eine Tempo-30-Zone (oder war es vielleicht eine Tempo 30 Strecke?) auf der St.Leonhardstrasse bis zum Oberen Graben ablehnt. Rekurs gegen die städtische Planung eingereicht hatte der TCS. Das berichtet stgallen24.ch
Soweit so gut. Das war nach dem Entscheid des Kantonsrates so zu erwarten und folglich wenig überraschend.
Ein paar Fragen aber stellen sich dann doch noch.
Die Definition von Strassen
Es gibt verschiedene Kategorien von Strassen. Es gibt Nationlastrassen, Kantonsstrassen und Gemeindestrassen in unterschiedlicher Kategorisierung. Diese Kategorien sind klar definiert.
Sucht man nun aber Definitionen für „siedlungsorientierte Strassen“, „verkehrsorientierte Strassen“ oder „Hauptverkehrsachsen“, dann wirds schon schwieriger. Ich zumindest habe keine echte konsistente Defintionen gefunden und die entsprechende Frage konnte mir bislang auch niemand so richtig beantworten resp. ich habe selbst von Fachleuten unterschiedliche Antworten erhalten.
Dass man im Kantonsrat zuweilen selber nicht genau weiss, was eine Strassenhierarchie oder eine Hauptverkehrsachse ist oder dass es einen Unterschied zwischen Tempo 30 Strecke und Tempo 30 Zone gibt, lässt gewisse Entscheide seltsam aussehen. (Quellen: dutzendfach in der Debatte des Kantonsrates zu hören)
Ein kleiner Hinweis vielleicht. Im Gegensatz zur Schweiz kennt das Fürstentum Lichtenstein den Begriff „Hauptverkehrsstrassen“ und definiert diese als „Nach Möglichkeit richtungsgetrennte und kreuzungsfreie Strassen, nur für Motorfahrzeuge“
Fazit: Die Mehrheit des Kantonsrates will einfach kein Tempo30. Wie weshalb und warum kümmert ihn wenig bis gar nicht. Muss ich nun halt (vorläufig?) einfach akzeptieren.
Wann übernimmt der Kanton die Stadt?
Vielleicht muss man sich diese Frage wirklich stellen (Das Umgekehrte wäre ein Stadtkanton). Es passiert nicht wenig, dass der Kanton Entscheide der Stadt nicht wirklich ernst nimmt. Sehr oft liegt es auch tatsächlich in der Kompetenz des Kantonsrates der Stadt Regeln vorzuschreiben. Nur gibt man sich im Kantonsrat äussert wenig Mühe wenigstens ein ganz klein wenig Verständnis für die Stadt zu zeigen. Viel mehr ist es in den letzten Jahren ausgeartet und die Stadt bekommt gewisse Trotzreaktionen zu spüren, die sehr oft auch arrogant und überheblich daherkommen.
Die Diskussionen um Richtplan, Kantons- oder Stadtpolizei, die Bibliothek, das Platztor oder eben auch Strassen und zuvorderst die Zentrumslasten sind auf ein bedenklich tiefes (verbales) Niveau gesunken. Konstruktiv scheint da nichts mehr möglich. Ich habe meine Schlüsse daraus gezogen
Was bleibt sonst noch auf der Strecke?
Dass man sich gegen T30 zur Wehr setzt mag ja für viele nachvollziehbar sein. Gerne vergisst man dabei aber auch, dass ein höheres Tempo auch Konsequenzen hat. Ich spreche hier nicht von Lärm und Sicherheit. Ich spreche von teurer Infrastruktur und künstlichen Hindernissen.
Mit einem Tempo von 30 wäre es möglich ganze Lichtsignalanlagen zu entfernen. Auf der besagten Strecke von der St.Leonhardstrasse bis zum Oberen Graben wären das nicht wenige. Die Chance dass man mit T30 und ohne LSA schneller durch die Stadt kommt als mit T50 und mit einem halben Dutzend LSA scheint gar nicht so abwegig, oder?
Etwas gar speziell werden dann Begründungen, wie z.Bsp. dass der ÖV von T50 profitiert. Und das genau auf dieser Strecke, auf der mit dem Bau der Engpassbeseitigung (im Abschnitt St.Leonhardstrasse) die Busspur wegfällt. Also T50 ohne Busspur und mit LSA – wer glaubt das sei effizienter, dem kann ich nicht helfen.
Abwer wo kommen wir denn hin, wenn man beim Verkehr vorausschauend denkt….Oder ist das am Ende alles gar nicht so schlimm und regelt sich am Ende von selbst? Das kantonale Tiefbauamt hat gestern immerhin gleich 3 Stellen ausgeschrieben, die für etwas Hoffnung sorgen. Hoffen wir mal, dass sie bei der Personalauswahl nicht mit Vollgas gegen eine Wand fahren.
Das sind übrigens die Ausnahmen, die T30 ermöglichen und vom Bundesgericht abgesegnet wurden:
Hier noch ein lesenswerte Ergänzung und Quelle aus dem Kanton Luzern
Verkehrsorientierte Strassen sind alle Strassen innerorts, die primär auf die Anforderungen des Motorfahrzeugverkehrs ausgerichtet und für sichere, leistungsfähige und wirtschaftliche Transporte bestimmt sind.
-> So steht es in der Signalisationsverordnung Art. 1 Abs. 9 SSV
In der Medienmitteilung des Bundesrates vom 24.08.2022 (https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90055.html) ist ausserdem zu lesen:
Im Gegensatz zum Bau- und Planungsrecht verzichtet der Bundesrat auf eine Verwendung des Begriffs «siedlungsorientierte Strassen». Im Verkehrsrecht genügt es, die Begriffe der «verkehrsorientierten» und «nicht verkehrsorientierten» Strassen zu verwenden.
Freundliche Grüsse
Eveline Ketterer
Danke für den Hinweis
Hier habe ich in der Zwischenzeit die Definitionen gefunden und auch die Ausnahmen für T30, die das Bundesgericht definiert hat. Diese treffen auch auf den 600m Abschnitt der St.Leonhardstrasse zu. Das TBA der Stadt und das Stadtparlament haben korrekt entschieden. Der Kanton hat das grösstenteils ignoriert. Klar, letztlich ist Interpretationssache. Bin gespannt was der Stadtrat macht. Die Chancen für T30 via Rechtsweg halte ich für intakt.
https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://mobilitaet.lu.ch/-/media/Mobilitaet/Dokumente/Tempo30/Vernehmlassungsbericht_PB_Tempo_30.pdf%3Frev%3D6eb076e2c3d941b99a5aec230c34466a&ved=2ahUKEwjT8PbRibmJAxWl2wIHHb0XOlMQFnoECCoQAQ&usg=AOvVaw2oM41ZAgSgaOABD7pV9ZNM
Dass ein Gutachten erstellt werden musste, lässt ja nur die Schlussfolgerung zu, dass es sich um eine verkehrsorientierte Strasse handeln muss: da ja für die nicht-verkehrsorientierten Strassen keine solchen Gutachten für T30 mehr nötig sind (s. die MM vom Bund).
Es gibt ein klares Gesetz für all das, lesen Sie die Signalisationsverordnung und das Strassenverkehrsgesetz
Artikel 2a, SSV: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1979/1961_1961_1961/de#art_2_a
Artikel 108 SSV: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1979/1961_1961_1961/de#art_108
Artikel 32 Abs 3, SVG: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1959/679_705_685/de#art_32
Dort stehen auch die ganzen Bedingungen drin, die nötig sind für eine T30 Zone auf verkehrsorientierten Strassen. Gilt im Übrigen auch für Begegnungszonen und sogar für Fussgängerzonen.
Diese Bedingungen sind offenbar nicht gegeben auf dem Streckenabschnitt St.Leonhardsstrasse bis Oberer Graben. In der Begründung des Rekursentscheids steht gemäss der Medienmitteilung, “ mit deutlichen Worten (…), dass die Darstellung des Gefahrenpotentials zum Teil gesucht und konstruiert wirke.“ und „Das verwaltungsinterne Gutachten der Stadt St.Gallen erwecke den Anschein, es sei von Anfang an ergebnisorientiert erstellt worden, um in Nachachtung des politischen Auftrags Argumente für die Einführung einer Tempo-30-Strecke zu finden.“
Das Problem ist also nicht, dass T30 Zonen auf verkehrsorientierten Strassen keinen Sinn ergäben, sondern dass das Gutachten der Stadt versucht hat, sich hier ein nicht vorhandenes Sicherheitsproblem – und dadurch fehlende gesetzlich vorgeschriebene Bedingungen – für die Einführung von T30 zurechtzubiegen, damit dem Entscheid des Parlaments entsprochen werden kann.
Freundliche Grüsse
Eveline Ketterer
Die Medienmitteilung stammt vom TCS und nicht vom Sicherheits- und Justizdepartement. Die Aussagen entsprechen folglich ihren Interessen.
Das stimmt, die Verordnungen sind soweit klar. Trotzdem hat das BG die Ausnahmen abschliessend definiert. Von 4 Punkten können 3 durchaus auch für diesen Strassenabschnitt zutreffen. Abschliessend beantworten kann das aber nur ein Gericht.
Es sind keine Ausnahmen, sondern Bedingungen, die zu erfüllen sind, um eine Ausnahme machen zu dürfen « Die allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten können herabgesetzt werden, wenn…»
Ist der Rekursentscheid öffentlich? Ich finde ihn bisher nicht. Haben Sie Zugang und könnten ihn öffentlich verfügbar machen? Dann kann man sich eine Übersicht verschaffen zum Inhalt.
Besten Dank
und freundliche Grüsse
Eveline Ketterer
Leider finde ich den Entscheid auch nicht. Wird einmal mehr ein mühsames Nachfragen werden. Ich gebe mir Mühe
Da bin ich sehr gespannt. Besten Dank für Ihre Bemühungen!
Freundliche Grüsse
Eveline Ketterer
U.a. die Flurhofstrasse ist eine Gemeindestrasse 1. Klasse. Wann wird dort
T30, Einbahn und Parkplätze aufgehoben.
Der Kantonsrat will auch T50 zwischen Kindergarten und Primarschule.
Sie sprechen die im Kantonsrat gutgeheissene Motion «Kein Tempo30 auf verkehrsorientierten Strassen» an, welche eine Gesetzesänderung des kantonalen Strassengesetzes vorsieht.
Der Rekurs des TCS bezieht sich jedoch auf die nationale Gesetzgebung.
Die Motion wird wegen des Eingriffs in die Gemeindeautonomie kritisch gesehen. Sie sieht vor:
«Die Regierung wird eingeladen, einen Entwurf zur Änderung des Strassengesetzes (sGS732.1; abgekürzt StrG) vorzulegen, in welchem:
1. Kantonsstrassen und Gemeindestrassen erster Klasse als verkehrsorientierte Strassen definiert werden;
2. vorgeschrieben wird, dass auf verkehrsorientierten Strassen grundsätzlich die bundesrechtlich vorgesehene Höchstgeschwindigkeit zu signalisieren ist;
3. abweichende Höchstgeschwindigkeiten durch Kanton und politische Gemeinden nur in Ausnahmefällen signalisiert werden dürfen, sofern und soweit nachgewiesen ist, dass der damit verfolgte Zweck nicht mit anderen Massnahmen erreicht werden kann.
4. eine Übergangsbestimmung vorgesehen wird, wonach laufende Projekte betreffend Tempo 30 nach heutigem Recht und heutiger Praxis beurteilt und realisiertwerden, sofern sie von Kanton und Gemeinde gemeinsam konzeptionell aufgearbeitet wurden.»
Das bedeutet, dass weiterhin T30 auf Gemeindestrassen erster Klasse möglich sind, jedoch die Bedingungen dafür gemäss https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1979/1961_1961_1961/de#art_108 zu erfüllen sind. Dort erlaubt Abs. 2b die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit, wenn:
«bestimmte Strassenbenützer eines besonderen, nicht anders zu erreichenden Schutzes bedürfen;»
Das dürfte weiterhin T30 ermöglichen auf Gemeindestrassen erster Klasse wenn sich dort Schulen oder Kindergärten befinden.
In Bezug auf die Flurhofstrasse: sie ist eine Gemeindestrasse erster Klasse, jedoch nur teilweise Einbahn und Tempo30. Auf dem Streckenabschnitt ab Bushaltestelle Flurhof Richtung Osten ist keine Einbahn und kein Tempo 30, obwohl sich weiter vorne auf diesem Weg eine Schule befindet. Soweit habe ich dies einmal abklären können. Vielleicht weiss Herr Baur mehr dazu, warum ausgerechnet dort, wo sich eine Schule befindet, kein T30 ist sondern T50. Es muss aber auch gesagt werden, dass niemand dort so schnell fährt.
Freundliche Grüsse
Eveline Ketterer
Gelenkbusse fahren an der Schmalstelle auf der Flurhofstrasse vor Kindergarten und Schule meist mit >50 km/h, wie ich selbst gemessen habe.
Alle Strassen mit Trottoirs sind autoverkehrsorientiert. Ansonsten bräuchte es diese nicht. Gibt kaum Strassen, wo sich Menschen länger aufhalten. Alles ist verkehrsorientiert.
In „Begegnungs“-zonen hört man maximal ein Grüezi.
Strassen sollten mehr Aufenthaltsqualität erhalten. Insbesondere auch wieder als entwicklungsförderlicher Freiraum für Kinder.
Sie vergleichen Ihre eigenen Wünsche nach Strassen als Aufenthaltsorte mit den Gesetzen, was als Strasse gilt und welche Zweckmässigkeit eine Strasse hat. Woher sollen die Güter Ihres täglichen Bedarfs denn kommen, wenn Strassen zum Spielplatz und Aufenthaltsort degradiert werden?
Dass die «Begegnungszonen» nicht so funktionieren, wie man das gerne hätte, sollte auch ein Anlass sein, dieses Konzept noch einmal zu überdenken. Gehen Sie ins Theater. Gehen Sie an ein Konzert, eine Ausstellung. Dort gibt es mehr als nur ein Grüezi. Das sind echte Begegnungsstätten und gerade in der Stadt schätze ich diese sehr. Auch Angebote für Kinder gibt es dort sehr viele, spielerisches und kulturelles und oft ist die Teilnahme sogar kostenlos!
Die Stadt St.Gallen bietet eine sehr ausgewogene Mischung aus Natur und Stadtleben. Wenn Sie an der Flurhofstrasse leben, können Sie mit Ihren Kindern in den sehr nahegelegenen Hagenbuchwald gehen, wo sich ein vortrefflicher Freiraum befindet, soweit ich weiss, sogar ein Waldkindergarten. Sie haben wohl noch nie eine echte Grossstadt besucht, in der es wirklich keine Freiräume für Kinder hat.